„Fritze Michel“, der letzte Nachtwächter
Ein vergessenes Nonnweiler Original
von Franz Johann
Die ältere Generation hat ihn noch gut gekannt, diese klobige vierschrötige Gestalt mit dem breiten Rücken, mit den wuchtigen Fäusten, welche die Gewalt eines Schraubstockes hatten, dazu das gutmütige Gesicht, in dem ein paar lebhafte Äuglein pfiffig in die Welt hinaus lugten. Wenn die Alten sich vergangener Zeiten erinnern, oder man entsinnt sich der Jugendjahre, immer wieder kommt man auf ihn zu sprechen, denn in der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war „Fritze Michel“ für Nonnweiler ein Begriff.
Sein richtiger Name lautete Michel Hohnecker. Sein Vater, Fritz Hohnecker, gebürtig aus Templin (Brandenburg), von welchem Michel seine Originalität geerbt hatte, war als junger Bursche in einem Heerestross der Blücherarmee 1794 mit nach Frankreich gezogen. Nach dem Rückzug desselben über den Rhein blieb der junge Hohnecker in Nonnweiler hängen. Nach einer bestimmten Zeit, in welcher er sich als Tagelöhner recht und schlecht durchschlug, übertrugen ihm die Bauern das Hüten der Herden, so dass der Gründung einer Familie nichts mehr im Wege stand.
Auch Michel als der älteste Spross dieser Ehe wurde Hirte. Er teilte sich mit seinem Vater in diesen Beruf und verlebte stille und geruhsame Stunden in der Einsamkeit des „Nonnweiler Wildlandes“ und auf dem „Hascheid„.
Doch auch ihn ergriff in der Not der damaligen Auswanderungsjahre das Reisefieber. Gleich vielen anderen betete er sein letztes Vaterunser auf dem Heimatboden vor dem alten Hubertuskreuz, um dann als junger Mann von einigen zwanzig Jahren den Fußmarsch nach dem alten Antwerpen und damit die Überfahrt nach Amerika anzutreten.
Doch die Anwesenheit in der „neuen Welt“ sollte für Michel nicht von allzu langer Dauer sein; nach einem halben Jahr landete er wieder in der Heimat. Die Gründe zu dieser baldigen Rückkehr mögen verschiedener Art gewesen sein; jedenfalls hat das Heimweh eine wesentliche Rolle dabei gespielt. Über die Ursache seiner baldigen Rückkehr befragt, gab Michel die Antwort: „Joo, et war dort alles gutt und scheen, awer – et war kää Hoschelt (Hascheid) do!“ Er teilte sich wieder mit seinem Vater in den Hirtenberuf und wurde zudem am 1.April 1854 von der Gemeinde als Nachtwächter angestellt, worüber die Niederschrift der Gemeinderatssitzung des gleichen Tages Aufschluss gibt.
Der unter dem Vorsitz von Ortsvorsteher Junk versammelte Gemeinderat: „In Erwägung, dass der Nachtwächter Feit hierselbst seine Stelle gemäß Protokollerklärung vom 30.Februar dieses Jahres freiwillig niedergelegt hat, daher eine anderweitige Besetzung dieser Stelle nötig ist, schlägt zu dieser Stelle den im Lesen und Schreiben hinreichend erfahrenen und auch energischen Michel Hohnecker, 37 Jahre alt, Tagelöhner zu Nonnweiler, vor, gegen ein jährliches Gehalt von 20 Thalern, unter der Bedingung, dass er auf dreimonatliche Kündigung angestellt werde. Das Gehalt soll er von heute an von wo ab er dieses Amt provisorisch übernommen hat, beziehen.“
Michel war jetzt in seinem Hauptberuf Nachtwächter, nebenberuflich Hirt. Zu seinen Pflichten gehörten vor allem seine nächtlichen Rundgänge von nachts 11.00 Uhr bis morgens 4.00 Uhr. Da die Dörfer unserer Heimat damals durchweg nur das Strohdach kannten, hatte er vor allem auf Brand zu achten. Auch für Ruhe und Ordnung in nachtschlafender Zeit war er mitverantwortlich. Dann hatte er auf seinem Rundgang die Stunden kundzutun mit einem Pfiff auf seiner Trillerpfeife. Die Stellen, an welchen dieser Pfiff zu erfolgen hatte, waren genau festgelegt. Der erste Pfiff erfolgte an der Kurve „Unter der Fels“, der zweite vor dem Pfarrhaus, der dritte im heutigen Mühlenweg beim Hause Frank (Gisbert Heib), der vierte „Auf der Geig“ beim alten Gasthaus Hower, der fünfte in der Trierer Straße beim Kloster und der sechste und somit letzte in der Dorfmitte vor dem heutigen Gasthaus Lauer. Damit war der erste Rundgang beendet. Um 12.00 Uhr erfolgte die zweite Runde mit zwei Pfiffen an den vorgenannten Stellen und so fort jede Stunde bis 4.00 Uhr morgens mit dem Unterschiede, dass um 1.00 Uhr wieder mit einem Pfiff begonnen wurde und dann nach den folgenden Stunden die betreffenden Pfiffe erfolgten. Michel erledigte gewissenhaft seine Aufgaben, am Tag bei seiner Schweineherde auf dem Hascheid und auf der Trift in der „Kellerbach“, nachts auf seinem dienstlichen Rundgang. Außerdem hatte man ihm das Amt des Abdeckers übertragen und jeder Fuchs , den Förster Laudes im Winter erledigte, wurde von Michel seines Pelzes entkleidet. Für den sogenannten Fuchskern hatte er aber eine besondere Verwendung. Er hing diese an einer Kette drei Tage und Nächte in die winterlich-kalten Fluten des Primsbaches. Durch diese Behandlung wurde dem Fuchs der Ranzgeruch vollständig entzogen. Er gab dann für Michel und seine Familie einen köstlich duftenden Braten ab.
Auch machte Michel manche dienstlichen Gänge nach auswärts. Über einen dieser Art ist nach mündlicher Überlieferung folgendes berichtet: „Michel war im Auftrag des damaligen Amtsbürgermeisters Junk nach Hermeskeil. Gleichzeitig sollte er dort mehrere private Kommissionen mit diesem Gang erledigen. So sollte er dem Gastwirt Dellwing (Vorbesitzer des Gasthauses Lauer) zwei Krüge mit Branntwein aus der dortigen Brennerei Weber mitbringen. Die Frau des Amtsbürgermeisters hatte ihm den Auftrag gegeben, die gestärkten weißen Hauben mitzubringen, welche für sie, für die Schwester Suse des Pfarrer Mergens und für verschiedene andere Bürgersfrauen bestimmt waren. Denn es war einige Tage vor dem 3. November, Hubertuskirmes, und nach der damaligen Tracht gehörte die gestärkte, weiße Haube zum Festkleid. Michel, immer zuverlässig, hatte alle Aufträge in Hermeskeil erledigt. Auf dem Heimwege wollte er dann die Branntweinkrüge in der Brennerei Weber, die am Ausgang des Ortes lag, mitnehmen. Gesagt, getan. Aber der Aufenthalt in der Brennerei blieb nicht ohne Folgen. Schwankend, mit schwerer „Schlagseite“, verließ Michel den gastlichen Ort. An einem Strick baumelten über die Schulter die beiden Krüge, einer vorn, einer hinten. In der Hand eine große Tüte mit einem Dutzend weißer, gestärkter Festtagshauben, so verließ Michel Hermeskeil.
Alles ging gut durch den Hermeskeiler Wald, bis die Höhe oberhalb von Nonnweiler erreicht war. Brausend warf sich hier der Nordweststurm Michel entgegen. Im Torkeln und Schwanken von einer Straßenseite zur anderen schlugen die am Strick baumelnden Branntweinkrüge mit einem lauten „Krach“ zusammen. Scherben splitterten auf der Straße, die beiden Krüge waren zerbrochen. Entsetzen sträubte Michels Haar, und gerade in diesem fürchterlichen Augenblick entführte der Sturm die Tüte mit den zwölf Hauben. Jetzt aber erwachte in Michel das Bewusstsein. In langen Sprüngen jagte er der Tüte nach, die inzwischen den größten Teil ihres Inhaltes dem Winde preisgegeben und über die Sturzäcker verstreut hatte. Aber Michel ruhte und rastete nicht eher, bis er auch die letzte der flüchtenden Hauben wieder eingefangen und mit seiner klobigen Faust an ihren ursprünglichen Platz in der Tüte zurückbefördert hatte. In welchem Zustand, das war eine andere Frage. Aber mit Seelenruhe lieferte er bei der Frau Bürgermeister die Tüte mit den Hauben und die dazu gehörende Liste der Empfänger ab und nahm das Trinkgeld einen Taler in Empfang, den er aber sofort beim Gastwirt Dellwing in Zahlung gab für die verunglückten Branntweinkrüge. Jedenfalls ist eines fest verbürgt: an diesem fraglichen Hubertustage hat keine der auf diese Art mit weißen Hauben belieferten Bürgersfrauen die althergebrachte, festliche Kopfbedeckung getragen.
Und wieder einmal war Hubertustag. Am zweiten Feiertage, dem Kirmesmontag, saß Michel in der Gastwirtschaft Haubert (Siverens), der heutigen Hubertusschänke, und trank Branntwein. Dabei sei ausdrücklich hier betont, dass Michel kein Gewohnheitstrinker war, nur ab und zu hatte er eben „seinen Tag“. Schon mehrere Male hatte der Wirt ihm das leere „Knuppenglas“ gefüllt, als in dem Trubel der allgemeinen Feststimmung ein spindeldürres Männchen auftauchte, welches sich als Kartenschläger produzierte und, die Gelegenheit ausnutzend, sich einige Groschen zu verdienen gedachte. Nachdem der Kartenschläger unter vielem Hallo der anwesenden Burschen diesen die vermeintliche Wahrheit aus den aufgedeckten Karten gesagt hatte, machte einer aus der Runde den Vorschlag, auch einmal dem „Vetter Michel“ die Karte zu schlagen.
Gespannt verfolgten alle Anwesenden den nun kommenden Vorgang. Was würde wohl dabei herauskommen und das war wohl die Hauptsache: Wie würde Michel auf die Weissagung des Kartenschlägers reagieren ?
Beide saßen sich gegenüber. Nachdem die Karten zum ersten Male gemischt und ausgebreitet waren, verkündete das spindeldürre Männchen: „Sie werden ein sehr hohes Alter erreichen!“
„Prost Compère„, sagte Michel, ein Ausdruck, der heute noch in Nonnweiler gebräuchlich ist und soviel bedeutet wie Gevatter, Bursche. (Französisch Compere = Kumpel oder Freund).
Das zweite Aufdecken ergab das Resultat: „Sie werden eine große Erbschaft machen und sehr reich werden!“ „Prost Compère„, war Michels Antwort und „Geff meinem Compère e Schnaps“, sich an den Wirt wendend.
„Aber“, sagte das Männchen, und deckte zum dritten Male die Karten auf, „aber Sie werden vor Ihrer Frau sterben!“ Das hätte nach der reichen Erbschaft nicht kommen dürfen. „Eweil krischt dau mir de Mangel“, und mit seinen gefürchteten Schraubstockfäusten umgriff Michel den spindeldürren Hals seines Gegenübers, und wenn die Burschen nicht hinzugesprungen wären und hätten mit Gewalt diese Fäuste geöffnet, die Sache würde ein böses Ende genommen haben. Eilig raffte das Kartenmännchen seine Bilder zusammen und verschwand auf Nimmerwiedersehen.
Seinen urwüchsigsten Streich aber beging Michel, als er seinerzeit dem Amtsbürgermeister Britten das Hüten der Schweineherde übertrug und das war so: Silvesternacht. In jedem Winkel des Dorfes knallten die Pistolen, was den Polizeidiener Barth in begreifliche Aufregung versetzte. Denn dieser war für die Ruhe in dieser Nacht an erster Stelle verantwortlich, die zweite Verantwortung für das nächtliche Treiben fiel Michel als Nachtwächter zu.
Aber, wie sich der Polizist auch abmühte, der Ruhestörer habhaft zu werden, Michel saß seelenruhig im alten Gasthaus Hower und trank Branntwein, er hatte eben „seinen Tag“.
Auch Amtsbürgermeister Britten hatte im gleichen Lokal Platz genommen und beobachtete stirnrunzelnd seines Nachtwächters Tätigkeit, während draußen in dunkler Winternacht die Pistolen und Karabiner immer lauter knallten. Zudem erschien jetzt auch noch der Polizist und machte dem Bürgermeister Meldung über das Fehlen des Nachtwächters.
Jetzt musste die Obrigkeit einschreiten. Herr Britten begab sich zum Tisch, wo Michel ganz allein vor sich hindöste: „Hohnecker, Sie gehen jetzt sofort ihrem Dienst nach und unterlassen das Trinken!“, war der Befehl des Bürgermeisters. Michel sah denselben mit seinen pfiffigen Schweinsäuglein an, bleib ruhig sitzen und schwieg.
Der Bürgermeister nahm seinen Platz wieder ein in dem Glauben, Michel würde sich aufmachen. Aber keineswegs, er bestellte einen neuen Schnaps während draußen im Dorf die Schüsse nicht schweigen wollten. Und wieder befahl der Bürgermeister: „Hohnecker, Sie verlassen aber jetzt sofort das Lokal und sehen draußen auf Ordnung!“
Auch hiervon nahm Michel keine weitere Notiz, sondern verabfolgte sich einen kräftigen Schluck. Alle Anwesenden, die Eigenart Michels zur Genüge kennend, erwarteten mit Spannung, wie diese Auseinandersetzung zwischen Polizeibehörde und Nachtwächter zu Ende gehen sollte, da ertönten draußen vor der Haustür zwei fürchterliche Donnerschläge, der „Buddinger“ hatte einen alten Reiterkarabiner abgefeuert, dessen einzelne Bestandteile dem Schrotthaufen der Mariahütte entnommen und für einen neuen Gebrauch zusammengesetzt waren. Schnell die abgeschossenen Läufe zwischen die Scheite des Klafterholzes geschoben, das vor dem Lokale stand, und grinsend betraten einige Burschen die Gaststube.
Das war Herrn Britten zu viel. „Hohnecker„, mit drei Sätzen stand er vor Michel. „Zum dritten und letzten Male sage ich Ihnen, verlassen Sie jetzt sofort das Lokal und machen Sie Ihren Dienst. Im nochmaligen Weigerungsfalle werden Sie als Nachtwächter abgesetzt und Sie dürfen auch die Schweine nicht mehr hüten!“ Jetzt erwachte Michel aus seiner Lethargie.
„Dann hütscht Dau se„, sagte er, und beschäftigte sich mit seinem Branntweinglase, ohne die Androhung seines höchsten Vorgesetzten weiter zu beachten. Herr Britten stand sprachlos, schüttelte den Kopf und nahm seinen Platz beim alten Oberförster Theisen wieder ein, während die Burschen über die Abfuhr der Obrigkeit feixten und Michel für die nächsten Stunden so mit Schnaps traktierten, dass sie ihn dafür aber auch in den frühen Morgenstunden des heraufdämmernden Neujahrstages auf einer Bahre heimtragen mussten.
Michel blieb Nachtwächter und Schweinehirt. Es würde zu weit führen, alle Anekdoten, die um seine Person rankten, aufzuführen. Er starb am 28. Januar 1897. Mit ihm der letzte Nachtwächter und Schweinehirt des Dorfes, denn keines seiner Ämter wurde nach seinem Tode wieder besetzt. Die urwüchsige Originalität seiner Person sei durch diese Schilderung für kommende Geschlechter festgehalten.
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Anmerkung: Diese Erzählung über „Fritze Michel“ von Franz Johann (Marlens Franz), wurde erstmals am 25.4.1958 in der >Saarbrücker Zeitung< veröffentlicht. Sie erschien ebenfalls im Jahrbuch des Landkreises St.Wendel, Ausgabe 1964. Man könnte diese Erzählung auch noch erweitern, durch den Zusatz: „…und letzter Schweinehirt von Nonnweiler“.
Es war früher bei uns in den Hochwalddörfern üblich, die Männer mit Verra (Vetter) und die Frauen mit Vas (Base) anzureden. Sogar die Kinder gebrauchten ihren Eltern gegenüber nicht die Anrede >Du<, sondern respektvoll >Ihr<. Zum Beispiel: „Mutter könnt Ihr mir ein Stück Brot geben?“.
So bedeutet der Name „Fritze Verra Michel“ nichts anderes als Herr Michel Fritz. Nein, sein Familienname war nicht Fritz oder Fritze, das war nur sein sogenannter Hausname. So wie ihn auch heute noch viele Familien bei uns tragen. Denn manchmal kennt man einen Menschen besser unter seinem Hausnamen, als unter seinem tatsächlichen bürgerlichen Namen. Der Hausname >Fritze< kam vom Vornamen seines Vaters her, der ja Friedrich, abgekürzt Fritz hieß. In Wirklichkeit hieß der >Fritze Verra Michel< , Michael Hohnecker.
Honecker oder Hohnecker, dieser Name klingt vielen von uns allen noch im Ohr. Ja dieser Michel Hohnecker, genannt >Fritze Michel< war der Großvater des einstigen Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker.
>Fritze Verra Michel< war ein echtes Original und die Geschichten, die Franz Johann von ihm erzählt, sind authentisch und wahrhaft zum schmunzeln. Es gibt aber noch eine ähnliche Erzählung von Antonius Jost, welche im Band II. der Schrift: „140 Jahre Amt Nonnweiler“ von 1958 veröffentlich wurde. Diese bezieht sich jedoch auf Friedrich Hohnecker, dem Vater unseres Michel. Vater und Sohn Hohnecker waren wohl aus dem gleichen Holz geschnitzt, weshalb spätere Generationen viele Geschichten vom Vater, wohl auch auf den Sohn übertrugen. Daher möchte ich auch diese Erzählung nachfolgend hier wiedergeben.
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