„Vetter Fritz“ , der vielbewunderte Meistererzähler

von Antonius Jost

„Am 7.Januar 1879 verstarb in Nonnweiler in seiner Wohnung der Veteran Friedrich Hohnecker, 92 Jahre alt, geboren in Templin (Brandenburg), Ehemann der verstorbenen Anna Diné, Sohn der verstorbenen Eheleute Johann Hohnecker und Anna Maria Schoene.“ Soweit in knappen Worten das amtliche Sterberegister. Dass mit diesem hochbetagten Bürger ein Original des Dorfes dahingegangen war, meldet keine Chronik und kein amtliches Register. Doch die mündliche Überlieferung, vor allem unter der älteren Dorfgeneration, hat den Toten unter dem Namen „Vetter Fritz“ weiterleben lassen.

Die Kriegsstürme von 1813/14 waren verbraust, als der junge Friedrich Hohnecker, der ehemalige königlich-preußische Soldat, Teilnehmer an Napoleons russischem Feldzug, nach der Schlacht von Waterloo seinen Abschied nahm. Als Treibholz jener bewegten Zeit wurde er in unserem stillen Hochwalddorf an Land geschwemmt. Hier und in der näheren Umgebung blühte damals noch eine heute fast schon vergessene Eisenindustrie, die sich auf die mageren Erzvorkommen der oberen Prims und die Holzkohle ihrer ausgedehnten Waldungen stützte. Daneben gab es eine beachtliche Heimindustrie, die Schuhnägel und Holzgerätschaften aller Art herstellte. Waren es diese Umstände oder reiner Zufall, die unseren Kriegshelden hier an Land gehen ließen? Das bleibt ungeklärt.

Jedenfalls vertausche Hohnecker die Muskete mit dem Schnitzmesser des Pfeifenmachers und versuchte es mit einem bürgerlichen Leben. Dies scheint nicht ohne Schwierigkeiten abgegangen sein. Die noblen Umgangsformen des weitgereisten Mannes, sein flottes Auftreten und sein bewusst angewandtes Hochdeutsch, Humor und Redekunst kamen ihm dabei zwar sehr zustatten. Aber schwer wird er gegen den Argwohn der einheimischen Bevölkerung kämpfen müssen. Die Glorie des Soldaten großer Schlachten, sein Auftreten und all das Fremde, das ihm anhaftete, mögen ihm die Herzen der Dorfschönen im Sturm geöffnet haben. Dagegen versperrten ihm seine Mittellosigkeit die Türen der alteingesessenen Familien, wo er sich eine Braut hätte werben können. Beruflich war er erfolgreicher. Bald war er in die Zunft der Pfeifenmacher aufgenommen. In seiner nie verlegenen Art des erprobten Soldaten erkor er sich eine Frau im Nachbarort.

Die kleine Mitgift reichte zu einem Häuschen, das heute noch steht. Unser tapferer Krieger füllte es nach und nach mit einer zahlreichen, aber kerngesunden Nachkommenschaft. Die Einkünfte seines Handwerkes waren bescheiden, und der tatkräftige Familienvater wird seine liebe Not gehabt haben, bis all die vielen Vögelein flügge und ausgeflogen waren.

Über all diesen Schwierigkeiten und Sorgen bewahrte Vetter Fritz seinen Humor. Damals waren die Menschen noch nicht so gehetzt wie heute. Man hatte mehr Zeit, weil auch das Leben langsamer und gemächlicher floss. Der Rundfunk war noch nicht erfunden, und Zeitungen und Bücher fanden ihren Weg noch nicht in unser Tal. Ein guter Erzähler war daher an den langen Winterabenden ein gesuchter Mann. Um ihn scharten sich die Jungen und die Alten. Und hier leistete Vetter Fritz Großes. Seine Geschichten stellten alles in den Schatten, was bisher in den Dorfschenken und in den „Meistuben“ seit Menschengedenken geboten worden war. Sie dauerten Abende lang. Ja zuweilen soll der erste Hahnenschrei dem Erzähler, nicht aber seiner Geschichte ein Ende gesetzt haben. Wär hätte es auch dem Vetter Fritz gleichtun sollen? Seine „feine“ Sprache, seine gewaltige Phantasie, die aus einem abenteuerlichen Leben schöpfen konnte, der überall eingestreute Humor und nicht zuletzt die selbstgemachten Verse, die geschickt in die Schilderungen eingeflochten waren, bezauberten die Zuhörer. Der Nimbus des alten Kriegsveteranen verstärkte die Wirkung. So war Vetter Fritz ein Menschenalter lang der vielbewunderte Meistererzähler des Dorfes und wohl auch der näheren Umgebung. Entsprangen auch die meisten seiner Geschichten der Phantasie, so wurden sie doch geglaubt. Wagte es aber jemand, an der Wahrheit einer Geschichte zu zweifeln, so verfiel Vetter Fritz in die hohe Sprache der Dichter: „Ich war in Warschau und in Wien, in Potsdam und Berlin, in Russland und in Polen, der Teufel soll mich holen, wenn es nicht wahr ist!“, sprach’s, stand auf und verließ zürnend seine verdutzten Zuhörer.

Trotz seiner allgemeinen Beliebtheit, die er sich nach und nach erworben hatte, war er nicht auf Rosen gebettet. Die ganze Gegend des oberen Primstales erlebte gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine Art Wirtschaftskrise. An der Saar gelangte der Steinkohlenbergbau zu immer größerer Blüte, und gleichzeitig entfaltete sich dort die Eisenindustrie. Die Schmelzhütten und Eisenhämmer unserer Gegend waren dieser Konkurrenz nicht gewachsen und schlossen ihre Betriebe. Die Anlagen zerfielen. Heute zeigen nur noch Mauerreste und überwucherte Schlackehalden ihre Lagen an. Auch die Schmiedefeuer der Nagler erloschen nach und nach, wenn sich auch einzelne noch bis in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg hinüberretteten. Die Kohlenmeiler in den Wäldern rauchten nicht mehr, die Köhlerhütten zerfielen.

Auch für die Pfeifenmacher hatte die Stunde geschlagen. Auf den Märkten der Mosel, Saar und Nahe wurden ihre Erzeugnisse ebenso wie die der Nagler von billiger Industrieware verdrängt. So legte ein Meister dieser ehrwürdigen Zunft nach dem anderen das Schnitzmesser aus der Hand und schloss sich einzeln oder mit der ganzen Familie den Auswandererzügen der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts an, um nach langer, entbehrungsreicher Reise jenseits des großen Teiches eine neue Heimat zu finden. Erst gegen Ende des Jahrhunderts, als die Eisenbahnen ihre blanken Schienenstränge auch in die Täler des Hochwaldes hinein schoben, flaute die Auswandererwelle ab. Der Bevölkerungsüberschuss fand lohnende Beschäftigung in der mächtig aufblühenden Kohlen- und Eisenindustrie des Saarbeckens.  

Von diesen Vorgängen ließ sich Vetter Fritz kaum beeinflussen. Auch sein Schnitzmesser ruhte längst. Er war alt geworden, war aber rüstig wie ein Vierziger. Vielleicht hielten ihn seine hohen Jahre von Auswandern ab. Seine Frau hatte das Zeitliche lang vor ihm gesegnet. Die Kinder standen auf eigenen Füßen. Seine Sippe, deren Ahnherrnwürde er mit Stolz trug, hatte sich über die ganze Gegend verbreitet.

Vielleicht ist ihm das Auswandern auch als Verrat an dieser starken Sippe vorgekommen. Er blieb und zog ein Leben der Armut dem Auswandern vor. Allein lebte er in seinem Häuschen und führte sich auch den Haushalt selbst. An Stelle des Schnitzmessers hatte man ihm die Hirtenschaufel in die Hand gedrückt. Der nutzbare Ackerboden des Gemeindebannes war durch Rodungen und das Wiesengelände durch eine hervorragende Talbewässerung, deren Überreste noch vor der Primsregulierung in ihrem alten Bett deutlich zu erkennen waren, erheblich vergrößert und ertragreicher gestaltet worden. Der Viehbestand vergrößerte sich. Dem ehemaligen Kriegsveteranen und Pfeifenmacher Hohnecker übertrug man das Amt des Gemeindehirten. Jahrzehntelang versah der immer rüstige Vetter Fritz noch dieses Amt mit Würde und Verstand. Hoch überm Dorf, auf der gemeindeeigenen Hochfläche des Haarscheids, weidete er die ihm anvertrauten Tiere wie Kühe, Schafe und Schweine. Ein Tränkplatz unter einer alten Wettereiche und eine Schutzhütte wurden von ihm angelegt. Eiche und Hütte stehen nicht mehr. Wohl aber ist die Tränke noch da. Heute noch heißt die Stelle der „Tränkebaum“. Von hier aus bot sich unserem Hirten ein herrlicher Rundblick über Höhen und Täler. Vom ersten Frühlingstag bis spät in den Herbst lebte er hier sein Leben unter seinen Tieren in einem herrlichen Naturgarten, umgeben von Vogelstimmen, dem Murmeln der Bäche im Tal, dem Rauschen der Wälder, dem Duft der Kräuter und dem Sausen des Höhenwindes, der in seinem langen Bart zauste.

Hier verlebte er die Stunden des Höhenfluges seiner Phantasie. Die Bilder, die ihn hier umgaukelten, erstanden zur Wirklichkeit in den Erzählstunden der Winterabende. Mehr denn je standen die Lauscher in seinem Banne. In seiner Erzählertätigkeit fand der eisgraue Gemeindehirt eine Entschädigung für die Einsamkeit seiner alten Tage. Wenn der Beifall seiner Zuhörer seinen Fähigkeiten und Verdiensten die rechte Anerkennung zollte, mag er in seiner alten Soldatenseele sein bescheidenes Hirtendasein als eine Art Schmach empfunden haben. Davon zeugt sein Ausspruch: „Ich habe Kaiser und König gedient und den Nonnweiler Bauern die Schweine gehüt’t.“ Dieser selbstironische Vers wird von den Alten des Ortes heute noch belacht. 

Sein Leben in der Natur machte aus ihm einen erfahrenen Kräutersammler. Die Heilkraft eines Krautes empfahl er erst, wenn er die Wirkung an sich selbst erprobt hatte. Dabei glaubte er felsenfest an eine Stimme, die ihm auf seinem einsamen Hirtenposten von irgendwoher die Heilkraft einzelner Kräuter zurief. Sein Kräutersammeln mag ihm auch einen kleinen Nebenverdienst eingebracht haben. Seine eigene Rüstigkeit und sein bibliches Alter waren für seine Empfehlungen die beste Reklame. Er behauptete, er habe sich eines Tages einmal sehr krank gefühlt und glaubte sein letztes Stündlein gekommen. Da habe plötzlich die ferne Stimme gerufen: „Fritze, Fritze! Trink Biwerklee (Biberklee, Bitterklee, Fieberklee) und Biwernell (Bibernell), dann kommt der Tod auch nicht so schnell!“

Auch der Spott ist an seiner ehrwürdigen Gestalt nicht vorbeigegangen. Hämische Zungen behaupteten, Vetter Fritz habe nicht lesen noch schreiben gekonnt und habe geschlachtete Hunde und Katzen geräuchert und verzehrt. Das erstere ist amtlich nachweisbar. Bei letzterem aber mag es sich vielleicht um Hasen oder sonstiges kleines Wild gehandelt haben. Wälder und Bäche boten dem Einsamen ja derartige Gaben genug. Wer möchte es ihm verübeln? Die Häslein hüpften damals sicherlich noch zahlreicher und munterer als heute, und die Forellen in den Bächen sprangen in größerer Zahl nach den Mücken.

Als nun trotz Biwerklee und Biwernell der Tod doch eines Tages den 92jährigen Hirten von seiner Herde abrief, als seine letzte Geschichte erzählt und die bunte Lampe seiner Phantasie erloschen war, trauerten um ihn eine stattliche Schar von Kindern, Enkeln und Urenkeln und ein ganzes Dorf, das seinen ältesten Bürger, den ungeschlagenen Meister der Erzählkunst, verloren hatte. Seine Geschichten lebten noch lange weiter. Es waren ihrer zu viele, als dass Gedächtnis der Nachwelt sie bis heute hätte erhalten können. Viele seiner Verse dagegen leben unter den Alten des Ortes heute noch als eine Art geflügelte Worte.