Schinderhannes in Nonnweiler

Nonnweiler Erinnerungen von Franz Johann

Dunkles Gewölk jagte unter den Stößen des Herbststurmes über den spätnachmittaglichen Novemberhimmel. Brausend kam es herangeweht aus Nordwesten, warf sich mit unheimlicher Wucht gegen die Strohdächer des kleinen Hochwalddorfes, brach sich in dem mächtigen langgestreckten Forst des „Kahlenberges„. Die mächtigen Eichen, die starken Buchen erzitterten unter der wuchtigen Last dieses Sturmes und der eine oder der andere dieser Baumriesen, der in seinem Mark morsch oder faul war, hatte schon krachend zur Erde fallen müssen.

Die Wetterfahne auf der Turmspitze der im Jahre 1787 neuerbauten Pfarrkirche zu Nonnweiler, Sankt Hubertus mit dem Schlüssel darstellend, kam überhaupt nicht mehr zur Ruhe, unermüdlich wurde sie hin und her geworfen. Auf dem nach Norden gelegenen „Hoch Meil“ und dem nach Südosten langgezogenen Rücken des Peterberges hatte es am Morgen weiß geleuchtet. In der vergangenen Nacht war der erste Schnee dort gefallen, es ging auf den Winter zu. Die Dunkelheit brach heute früher herein als sonst, und zu dem Sturm gesellten sich jetzt klatschende Regengüsse, untermischt mit eiskalten Hagelschauern. Spätherbst im Hochwald. Man schrieb das Jahr 1801.

In der stillen Studierstube seines Pfarrhofes saß Herr Wilhelm T o r s c h. Recht gemütlich war es hier drinnen, wenn die Birkenklötze im Ofen krachten und wohlige Wärme verbreiteten, der Sturm mit unverminderter Gewalt um Pfarrhof und Kirche heulte und prasselnder Regen an die Fensterscheiben schlug.

Aber das Antlitz des Pfarrers drückte alles andere aus als Gemütlichkeit. Sorgen umdüsterten seine Stirn. Ja, Sorgen waren überhaupt in den letzten Jahren seine ständigen Begleiter gewesen. Da war, von seinem Vorgänger begonnen, der notwendige Neubau der Pfarrkirche. Alles war erwogen, die Finanzierung im allgemeinen sichergestellt, der Bau begonnen, da brach eines Tages der ganze schöne Plan auseinander. Die beiden Dörfer Otzenhausen und Schwarzenbach, die zur Pfarrei St. Hubertus Nonnweiler gehörten, machten sich selbständig, verweigerten Hand- und Spanndienste und bauten sich eine eigene Kirche. Nur Nonnweiler, mit den beiden Filialen Bierfeld und Mariahütte, waren St. Hubertus zur seelsorgerischen Tätigkeit verblieben, nur mit einer ganz erheblich verminderten Seelenzahl konnte der Bau der Kirche weitergeführt werden. Zwar hatte das baupflichtige Stift Pfalzel einen großen Teil der Baukosten übernommen, die Nonnweiler vierzehn freien Bauern, mancher Eingesessene der Filiale Bierfeld und nicht zuletzt die Familie Gottbill aus Mariahütte, hatten ihre Schuldigkeit getan, aber trotzdem war Herrn Torsch ein schweres Stück Arbeit verblieben, um den Kirchenbau finanziell unter Dach und Fach zu bringen. Die Mehrzahl seiner Pfarrkinder waren kleine Leute, Tagelöhner, Nagelschmiede, mit einem Haus voll Kinder, hatten kaum das Notwendigste zum Nagen und Beißen, und mit dem guten Willen dieser braven Leutchen allein war es bestimmt nicht getan.

Der Pfarrer rückte die Brille zurecht, durchblätterte eine Stoß Papiere, prüfte und rechnete und seufzte schließlich erleichtert auf, er konnte den Schlussstrich unter die Bilanz „Kirchenbau“ ziehen: „Die Sache war im Lot, Gott sei Dank.“ Sein Blick suchte das große braune Eichenkreuz, das über einem Betschemel ihm gegenüber an der Wand hing, und es schien für einige Augenblicke, als sollte der sorgende Gesichtsausdruck einem stillen, versonnenen Lächeln Platz machen. Er griff zu der längst kalt gewordenen langen Pfeife, entzündete sie mit Stahl und Schwamm, blies nachdenklich den Rauch vor sich hin und horchte auf das Tosen des Herbststurmes, der mit unverminderter Gewalt weiterwütete.

Doch da waren sie schon wieder, die Sorgen, wenn auch andere, dafür nicht mindere. Er überdachte den am letzten Sonntag gefeierten Hubertustag, das Patronatsfest der Pfarrei. Wie war doch dieses Fest in den früheren Jahren gefeiert worden? In kirchlicher und weltlicher Hinsicht einwandfrei, denn der „Hubertustag“ mit dem „Haupertsmarkt“ war der größte Tag im Jahr; berief sich doch der Urstamm der Nonnweiler Bauern allein schon dem Namen nach auf diesen Tag seit 800 Jahren. Und jeder Bauernbursche, der das Jahr über vielleicht etwas zu sparsam mit seinem Taschengelde umging, an diesem Tage, da durfte es etwas kosten. Wenn der alte Bauer nach dem festlichen Mittagessen an Haupertssonntag den verschnürten Lederbeutel umständlich aus der Tasche zog und seinen Buben das Kirmesgeld in blanken „Theresienthalern“ auf den Eichentisch zählte, diesen feierlichen Augenblick gab es nur einmal im Jahr.

Jawohl am „Haupertstag“, da durfte, da musste es etwas kosten. Und wie war es nun dieses Jahr gewesen? Herr Torsch sinnierte weiter. Gewiss, im allgemeinen noch wie ehedem. Aber die richtige Festfreude, die echte Stimmung zu diesem hohen Tage war in diesem Jahr nicht aufgekommen, denn Wirren und Unruhe waren im Lande. Die Kriegsereignisse der letzten Jahre waren nicht spurlos vorbeigegangen.

Preußische und kaiserliche Truppen hatte man auf dem Vormarsch gegen Westen wochenlang beherbergen müssen, und aus  diesem Vormarsch war nur allzubald ein Rückzug mit allen Begleiterscheinungen geworden. Darauf waren die französischen Revolutionstruppen gefolgt und hatten das Recht des Siegers für sich in Anspruch genommen. Dann kam das Heer der Nachzügler, die Kranken und Marodeure. Die Cholera war eingeschleppt worden und hatte auch in Nonnweiler und den benachbarten Dörfern ihre Opfer gefordert, es waren fürwahr harte Zeiten gewesen.

Zudem machte sich augenblicklich lichtscheues Gesindel überall breit, Weg und Steg waren nicht mehr sicher. War es an der belgischen Grenze die „Brabanterbande“ unter Picard, im Moseltal und der angrenzenden Eifel die „Moselbande“ unter dem berüchtigten Johann Müller, so wurden Hochwald, Hunsrück und das Nahegebiet in Atem gehalten durch Johannes Bückler, genannt „Schinderhannes„, mit seinen Gesellen.

Wenn man dem Räuberhauptmann auch manches Gute nachsagte, dass sein verwerfliches Tun und Treiben sich nur gegen den Besitz richtete, ja, dass er schon manch armem Teufel geholfen hatte, die Namen seiner Gesellen waren desto furchterregender.

Ob der „rote Fink“ oder der „schwarze Peter“, der „Müller Hannes“ genannt „Buttla„, oder der „Kristian Reinhard“, der „Husaren-Phillip“ oder der „Jakob Porn„, ob ein „Zughetto“ oder „Blackenklos„, alle diese Namen erzeugten Furcht und Entsetzen.

Offener Raub, Gewalt und Mord waren an der Tagesordnung, und gerade in den letzten Monaten war es besonders schlimm gewesen. Was nützt es, dass man die Fenster des Erdgeschosses mit vierkantigen Eisenstäben, den sogenannten „Tralljen„, vergitterte, die oben und unten in den Fensterstein eingestemmt wurden, mit einem schweren Balken rammten die Räuber bei ihren nächtlichen Unternehmungen die Haustüren zusammen und verschafften sich so mit brutaler Gewalt Einlass.

Erst vor zwei Monaten, im vergangenen September, hatte man auf diese Art im benachbarten Sötern das Haus des Juden Mendel Löw gestürmt, und als dieser sich mit der Axt in der Hand zur Wehr setzte, war er in seinem Hause kurzerhand durch einen Räuber niedergeschlagen worden. Auch der Mord an dem Steuereinnehmer Anton Linden im Hermeskeiler Wald im verflossenen März war noch in allgemeiner Erinnerung und bis jetzt noch nicht aufgeklärt. Man ging dazu über, in allen Orten einen Selbstschutz zu bilden und bei nächtlichem Räuberangriff die Kirchenglocken zu läuten. Trat dieser Fall ein, dann war meistens das Schlüsselloch der Kirchentüre mit Sand oder Steinchen verstopft, und bis die Glocken das schlafende Dorf in Alarm setzten, hatten die Räuber längst den Schauplatz ihrer Tätigkeit verlassen.

Zudem hatte „Schinderhannes“ fast in jedem Dorf seine Freunde und Hehler, und es ging das heimliche Gerede, dass ein Bürger aus Nonnweiler, der ihm gelegentlich einmal „gefällig gewesen“, zum Dank und als Talisman von dem Räuberhauptmann dessen Signalpfeife erhalten habe. Ja es waren harte Zeiten, und Herr Torsch stützte sorgenvoll das Haupt.

Der Sturm hatte inzwischen etwas nachgelassen. Es schien auch, als sollte der Regen schwächer werden.

Ab und zu hörte man das Rauschen der durch den starken Regen angeschwollenen Prims aus dem Tale herauf, dazwischen den hellen Klang des Hammers von dem dem Pfarrhofe gegenüberliegenden Eisenwerk jenseits des Baches. Herr Torsch trat ans Fenster und sah in die Nacht hinaus. Rotglühender Schein stand unten in den erblindeten Fenstern des Hammerwerkes, die Walzer waren an der Arbeit. Von der Schneidmühle herüber klang kreischender Sägeton, dort wurde das gewalzte vierkantige Nageleisen auf seine bestimmte Länge zugeschnitten.

Der Pfarrer ließ sie alle an seinem geistigen Auge vorbeiziehen, die rußigen Gestalten im Schurzfell, die jetzt da unten zur Nachtzeit, wo andere Menschen ausruhten, ihrer schweren Arbeit nachgingen, um dem rotglühenden Eisen die gewünschte Form und Gestalt zu geben. Meistens Kinder seiner Pfarrei, auch ein bestimmter Teil aus dem benachbarten Ort Otzenhausen. Es waren lauter brave Kerle, er kannte die meisten von ihnen in- und auswendig. Ein fleißiges Arbeitervolk, treu und zuverlässig, wenn sie sich auch einmal ab und zu einen Eimer Branntwein aus der alten Fuhrmannsschenke an der Primsbrücke herüberholten und dazu das angestimmte Lied der „Nonnweiler Walzer“ sangen. Was tat es, die Zeiten waren hart, auch für die Männer des Nonnweiler Hammerwerkes.

Eben hatte die alte Schwarzwälderuhr schnarrend zum Schlage ausgeholt, 10.30 Uhr. Herr Torsch trat an das gegenüberliegende Fenster und warf noch einen Blick in der Richtung seines schlafenden Pfarrdorfes, da plötzlich erklang die Flurglocke.

Was mochte das sein? Äußerlich ruhig, doch mit einem leisen innerlichen Beben, nahm der Pfarrer die Lampe und ging zur Haustüre. Man konnte ja nie wissen. Vorsichtig öffnete er das „Guckloch“, ein ebenso vorsichtiges Fragen, doch nach der erhaltenen Antwort war jede Furcht unbegründet. Ein Kind seiner Pfarrei, der Knecht Simon aus Bierfeld, stand vor der Haustüre, die der Pfarrer jetzt öffnete. „Was bringst du, Simon, zu so später Stunde?“ war die Frage. „Hochwürden“, stammelte der Bursche, noch atemlos vom raschen Lauf, indessen das Wasser von seinen groben Kotzen triefend um ihn her gleich eine Lache bildete. „Hochwürden, kommen Sie gleich, der alte Mattesbauer liegt im Sterben, er verlangt nach dem Sakrament“. „Gut, ich mache mich gleich fertig“, war die Antwort des Pfarrers, „gehe inzwischen den Küster wecken, er soll alles vorbereiten, gleich komme ich nach.“

Der Knecht entfernte sich, während Herr Torsch nach seinen Stiefeln griff und nach der Jungfer Kathrein, seiner Haushälterin, rief. Lamentierend erschien die alte Kathrein gleich auf der Bildfläche. „Wie, ein Versehgang in dunkler Nacht und bei diesem fürchterlichen Wetter, konnte der Mattesbauer nicht warten mit der Sterben, bis es Tag war?“ Und zudem allein bliebe sie in dieser Räuberzeit bei Nacht unter keinen Umständen im Pfarrhause, nein, unter keinen Umständen. „Wenn ein Sterbender ruft, kenne ich nur eines: diesem Ruf folgen, ob bei Tag oder Nacht“, war die ruhige Antwort des Pfarrers. „Aber zu deiner persönlichen Sicherheit werde ich den Nachbar, den Geigerbauer, wecken, dessen Sohn und ein Knecht können dir Gesellschaft leisten, bis ich zurückkomme.“ Der Pfarrer warf einen Mantel um, drückte einen breitrandigen Hut in die Stirne und verließ das Haus. Am Fenster seines Nachbars Geiger klopfte er und bat denselben, seinen Sohn und einen Knecht in den Pfarrhof zu schicken, damit die Kathrein sich beruhige.

Sohn und Knecht des Bauern waren innerhalb weniger Minuten hinübergewechselt, der Pfarrer eilte zur Kirche. Hier hatte der Küster, der damals neben der Kirche wohnte, alle Vorbereitungen zu einem nächtlichen Versehgang getroffen und nur wenige Minuten später verließen drei Männer die Kirche. Voraus ging der Knecht Simon, die Laterne tragend, neben ihm der Küster, beide mit lauter Stimme den Rosenkranz betend, dicht aufgeschlossen folgte der Pfarrer.

Schweigend unter seinen Strohdächern, in tiefem Schlafe, lag das stille Dorf. Nirgends ein Lichtschimmer, nur in der Fuhrmannschenke an der Primsbrücke war noch Leben und Treiben. Ab und zu drangen die verwehten abgerissenen Klänge eines Liedes in die nächtliche Stille und eben waren zwei Fuhrwerke auf dem holperigen Steinpflaster vor der Schenke angefahren. Anscheinend wollten die Knechte sich noch stärken mit einem Trunk, denn der Weg bis zur nächsten Haltestelle, das „Neuhaus“ bei Osburg oder das „Hinkelhaus“ bei Waldrach, waren noch weit.

Inzwischen hatte der Pfarrer mit seinen Begleitern die Höhe am Nordausgang des Dorfes erreicht. Wütend warf sich ihnen hier oben der Sturm entgegen, die Laterne drohte zu verlöschen, da klang ihnen plötzlich aus der Dunkelheit ein lautes „Halt“ entgegen.

Die drei Männer standen und der Küster schlug hastig das Kreuz. Doch eine Furcht war unbegründet. Vier berittene, französische Gendarmen auf nächtlicher Streife, waren hier für einige Minuten abgesessen. Nach kurzem Wortaustausch zwischen dem Pfarrer und dem Führer der Gendarmen gab letzterer den Weg nach Bierfeld frei.

Stumm, mit gezogenem Käppi, standen vier Reiter bei ihren Pferden, als der Pfarrer mit seinen Begleitern den Weg nach Bierfeld einschlug, um einem Sterbenden die letzte Tröstung zu bringen.

Nach kurzer Verständigung untereinander teilten sich die Gendarmen. Zwei von ihnen schlugen den Weg nach Kostenbach ein, die beiden anderen ritten durch das nächtliche Nonnweiler, um nach einem kurzen Halt an der Straßenkreuzung am Nonnweiler Hammerwerk den Weg nach Otzenhausen einzuschlagen.

In der Fuhrmannsschenke an der Primsbrücke ging es hoch her, die „Walzerbuben“ und die „Eisenschneider“ hatten sich zu einem fröhlichen Trunk zusammengefunden. Lustig klangen die Gläser aneinander, das „Nonnweiler Walzerlied“ stieg auf, der junge Näzer hatte es angestimmt. „Das Schwungrad dreht sich im Zirkel herum“. Überhaupt dieser Näzer, er war von allen der lustigste. Beide Augen hatte er zudem auf die dralle Schenkmagd, die „blonde Gret“ geworfen, und allem Anschein nach war auch die Gret ihm nicht abhold.

Er ahnte es ja damals noch nicht, dass knapp eineinhalb Jahrzehnte später eben dieses besungene Schwungrad ihm den frühen Tod bringen sollte. Bei einer Reparatur im großen Blasebalg während der Mittagspause wurde er durch die Unachtsamkeit des „Fallen-Buben“, der zu früh den Lauf des Wassers „auf das Rad“ kehrte, in dem Balg zu Tode gedrückt, seine arme Gret mit neun unversorgten Kindern in Not und Armut zurücklassend. Nein, das ahnte er damals noch nicht. Und von neuem wurden die Gläser gefüllt, von neuem „Prost“ getrunken und ein neues Lied angestimmt.

An einem anderen Tische saß ein kräftiger, stämmiger Bursche aus Nonnweiler, der „Schneid-Pitter„. Auch er bewarb sich um die Gunst der blonden Gret, war aber anscheinend seinem Nebenbuhler gegenüber ins Hintertreffen geraten. Sonst gutmütig von Natur, dazu ein begeisterter Sänger, konnte er im Trunk recht kratzbürstig sein. Dazu war er von einer ungewöhnlichen Körperkraft und in der ganzen Gegend wagte sich kein Bursche mit ihm anzubinden, man sagte sogar, er fürchte sich nicht einmal vor dem Teufel. In der „Schneidmühle“ war Pitter als Eisenschneider beschäftigt, war auch der Zeit entsprechend oft mit dem Fuhrwerk seines Arbeitgebers unterwegs und nun war er erst vor einigen Tagen von „großer Fahrt“ heimgekehrt. Weit, sehr weit war das Ziel gewesen. Im Auftrage der Gottbillschen Werksleitung hatte er mit zweispännigem Fuhrwerk eine Ladung gebündelter Nageleisen bis nach Ungarn gebracht, mutterseelenallein, ohne Beifahrer, nur auf sich allein gestellt, so hatte er die Fahrt zurückgelegt, zu vollsten Zufriedenheit seines Auftraggebers, und dabei auch für seine Person ein Stück Geld verdient.

Stets trug er seitdem die lederne, mit breiten Messingnägeln beschlagene Geldkatze umgeschnallt, und wenn auch der junge Näzer behauptete, dieselbe sei leer und würde nur von seinem Besitzer getragen, um „seiner Gret“ zu imponieren, die Walzerbuben waren anderer Ansicht.

„Schneid Pittergoss einen doppelten Korn nach dem anderen hinunter, denn die Stimmung der anderen Burschen missfiel ihm. Und dass die Gret ihn so nebenbei behandelte, steigerte ihn in eine heimliche Wut. Als nun der Näzer von neuem ein Lied anstimmte, dabei einen feurigen Blick dem Schankmädchen zuwarf, war es mit der Selbstbeherrschung des kräftigen Burschen aus und vorbei. Einen Faustschlag auf den großen Tisch, an dem seine Arbeitskameraden saßen, so das die Gläser durcheinander kollerten, einen graulichen ungarischen Fluch ausstoßend, riss er die Geldkatze von der Hüfte und „Bassi — malecki — ti remmdi demm!“ knallte er dieselbe auf die Tischplatte, dass die Marien-Theresien-Thaler und mehrere Goldstücke über den Fußboden fegten. Mit diesem Kraftausdruck war sein Gemüt beruhigt, er goss noch einen „Doppelten“ hinunter und legte sich auf die Bank, brummte noch einmal „Bassi — malecki“ und war eingeschlafen.

Die „Walzerbuben“ hatten inzwischen die auf dem Fußboden verstreuten Geldstücke zusammengesucht, gezählt und mit der Geldkatze dem Wirt übergeben. Morgen würde ihr Freund alles wieder erhalten. Mit zwei Fuhrknechten aus Nonnweiler, die Mariahütter Eisenwaren geladen hatten und diese Fracht nach Trier bringen sollten, war auch ein junger Forstmann in die Schenke an der Primsbrücke eingekehrt. Er war beritten von Schloß Dagstuhl gekommen und sollte eine Nachricht seines Freiherrn nach der Oberförsterei Drohnecken bringen. Der „Hermeskeiler Wald“ war unsicher. Aus diesem Grunde hatten sich Fuhrknechte und Forstmann zusammengeschlossen und dachten, bis Hermeskeil die Fahrt gemeinsam fortzusetzen.

Auch die beiden französischen Gendarmen, die befehlsgemäß ihre Streife nach Otzenhausen, Abzweigung Züsch, ausgedehnt hatten, waren auf dem Rückweg an der Fuhrmannsschenke abgesessen, hatten ihre Pferde gleich dem Dagstuhler Forstmann, draußen am Ring angebunden und betraten die Gaststube. Beide ließen sich an einem freien Tisch am Fenster nieder, bestellten einen Trunk und begannen Karten zu spielen. Es ging allmählich über Feierabend, aber so lange die Gendarmen saßen, konnte der Wirt beruhigt sein. Da trat ein später Gast in die Schankstube, der Viehhändler Johann Georg Scheerer* aus Kempfeld. (Dieser Scheerer war ein Hehler des Schinderhannes und wurde in Mainz freigesprochen.)

Sein stechender flüchtiger Blick übersah kurz die Gaststube, dann nahm er an dem Tische Platz, an dem der alte Meyer aus Nonnweiler saß. Beide begrüßten sich als alte Bekannte und waren bald in ein leise geführtes Gespräch vertieft.

Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, 1803 nach dem Leben gemalt

Um die Karten spielenden Gendarmen hatte sich ein Kreis von Zuschauern gebildet, Walzerbuben und Fuhrknechte. Der Dagstuhler Forstmann hatte anscheinend Geld zuviel, auch er war an dem Spiel beteiligt und hatte schon einen ansehnlichen Betrag verloren. Auch der reiche Viehhändler sah eine Weile zu, um dann ebenfalls am Spiele teilzunehmen. Im Handumdrehen hatte auch er einen hohen Geldbetrag verloren, der aber zum größten Teil in die Tasche des Forstmannes wanderte. Auch die beiden Gendarmen hatten den größten Teil ihres Gewinnes wieder an den ursprünglichen Verlierer zurückzahlen müssen, als man sich auf Vorschlag des Viehhändlers entschloss die Einsätze zu verdoppeln.

Das Gespräch während des Spieles drehte sich, neben den gebräuchlichen Redensarten um das Wetter, um die verflossenen Kirmestage, auch um die unruhigen Zeiten, um Schinderhannes und seine Gesellen. Der ältere der Gendarmen, mit Namen Adams, konnte sich nicht genug tun in lauter Verwünschungen über Bückler und seine Gesellen.

Scheerer, der mittlerweile eine bedeutende Summe an den Forstmann und einen der Gendarmen verloren hatte, schmiss jetzt plötzlich mit einem Fluche die Karten hin und bezichtigte letzteren des Falschspielens. Ein lauter Tumult entstand, in den sich sogar die Zuschauer einmischten. Der Forstmann, der den größten Teil des am Spiel verlorenen Geldes als Gewinn in der Tasche hatte, verließ den Schankraum, um, wie er sagte, nach seinem Pferde zu sehen, indessen der ausgebrochene Tumult in Tätlichkeiten auszuarten drohte.

Beschwichtigend, mengte sich der Schankwirt unter die Streitenden, bat und drohte, und aus der Tiefe der langen Bank klang in knurrendem Tone ein Schwall ungarischer derber Flüche des zu neuem Leben erwachten Pitter.

Da plötzlich ein schmetternder Schlag. Ein Fensterkreuz brach entzwei, Holzstücke und Glasscherben fegten über den Tisch, an dem vorher die Kartenspieler saßen. Draußen saß der Dagstuhler Forstmann im Sattel, zwängte lächelnd sein Gesicht zwischen die Gitterstäbe und sprach laut und vernehmlich in die erschrockene Menge: „Ihr alle, vor allem ihr Gendarmen, ihr wollt den Schinderhannes suchen, nun merket auf und beseht euch denselben genau, nämlich ich bin es“. Sprach’s und warf den Gaul herum.

Kanternde Hufe sprühten auf dem Kopfsteinpflaster Funken, ein Hohnlachen und drei gellende Pfiffe hallten durch die Nacht. Das Rauschen der angeschwollenen Prims, vermischt mit dem Lärm des Hammerwerkes, verschlangen mit der Dunkelheit Ross und Reiter.

Die Gendarmen stürzten zu ihren Pferden mit gezogenen Pistolen, wollten aufsitzen, aber siehe, die Sattelgurten waren durchschnitten, eine Verfolgung war vorerst unmöglich. Die Walzerbuben eilten zum Glockenturm, zogen die Stränge und alarmierten das Dorf.

Überall flammten Lichter auf, auf dem Kirchplatz versammelten sich die Dorfbewohner zur Abwehr des Gefürchteten, in ihrer Mitte der Pfarrer, der inzwischen vom Versehgang zurückgekehrt war. Aber der Lärm war umsonst, Schinderhannes war und blieb verschwunden.

Ob nun die drei gellenden Pfiffe bei seinem Davonreiten in die Nacht dem Viehhändler Scheerer oder dem alten Meyer gegolten hatten, wer weiß es? Und ob er seinen nächtlichen Ritt bis zur Züscher Mühle oder sogar noch weiter, nach Tiergarten oder zur Treberhaushütte auf Hüttgeswasen ausdehnte, das war nie zu erfahren.

Jedenfalls fand der alte Förster Bühler am nächsten Morgen im „Kahlenberg„, an der Wegegabel zur Mühle, einen Zettel an einen Baum geheftet mit der Inschrift: „Den Armen tun wir nichts, den Reichen schad es nichts. Merkt’s. Johannes durch den Wald.“ 

Aber auch einen Johannes Bückler erreichte das Schicksal. Am 21. November 1803, nachmittags 1 Uhr, fand er mit 19 seiner Gesellen vor dem Weißenauer Tor in Mainz den Tod durch Henkershand.

Sein gefürchteter Name sowie die seiner noch mehr gefürchteten Gesellen lebten noch Jahrzehntelang unter der Bevölkerung von Hochwald, Hunsrück und Nahe fort.

 

* Johann Georg Scheerer, Viehhändler aus Kempfeld, über ihn schreibt Helmut Weiler/Türkismühle 1993 in seinem Buch: „Schinderhannes Mythos und Wirklichkeit“ folgendes. Besagter Scheerer plante später sogar einen Giftanschlag auf den Schinderhannes:

Einer seiner Hehler war der Pächter des Althofes, ein reicher Bauer und Viehhändler aus Kempfeld namens Johann Georg Scheerer; er hatte von Schinderhannes zwei gestohlene Pferde erhalten. Diesen Diebstahl hatte Schinderhannes in Simmern gestanden. Als nun im Rahmen der Verhaftung des Schinderhannes-Komplizen Peter Zughetto, den der Hehler Scheerer deckte, die Behörden den Hof Scheerers überwachten und ihn nach Schinderhannes befragten, stritt Scheerer jedoch jede Bekanntschaft mit Schinderhannes ab. Da ihn dieser aber durch sein Geständnis überführt hatte, versuchte Scheerer, den Schinderhannes mit Gift umzubringen. Er verlangte von dem Kirner Apotheker Carl Oellig „ein Tränkelchen ….um den Schinderhannes aus der Welt zu schaffen, ….ihm und mehreren anderen (sei) viel daran gelegen….wenn dieser Kerl aus der Welt käme, weil er sonst durch seine Geständnisse noch manche Familie unglücklich machen könnte.“* Der Apotheker füllte eine geheimnisvolle Flüssigkeit in ein Fläschen, das der Schlosser Anton Kipper dem Schinderhannes ins Gefängnis schmuggeln sollte: doch auf dem Weg dorthin roch dieser daran – und Trank den Schnaps aus.

  • Franke, Schinderhannes, Seite 104